Komplexe Entwicklungstraumata sind keine Randphänomene. Im Vergleich zum Schocktrauma ist das komplexe Entwicklungstrauma bei Fachkräften oder den Betroffenen selbst oft nicht präsent. Es gelangt erst durch die Etablierung der Psychotraumatologie langsam ins Bewusstsein. In anderen Ländern ist man in dieser Hinsicht fortschrittlicher als in Deutschland.
Definition von Trauma
Die Definition des Begriffs Trauma geht zurück auf das griechische Wort für Verletzung oder Wunde. Psychologisch beschreibt Trauma das Erleben einer bedrohlichen Situation, die von Gefühlen wie Angst, Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein begleitet wird und subjektiv keine Möglichkeit bietet, die Situation zu bewältigen (Fischer u. Riedesser 2023).
Prävalenz komplexe Entwicklungstraumata in Deutschland
Witt et al. (2019) zeigen auf, dass rund 43,7% der deutschen Bevölkerung belastende Kindheitserlebnisse erfahren haben. 8,9% haben vier oder mehr traumatische Kindheitserlebnisse erlebt. Sie gehören somit zur Hochrisikogruppe für die Entwicklung körperlicher und psychischer Erkrankungen. Die Prävalenzraten für Frauen sind höher als die für Männer. Andere Untersuchungen finden eine Prävalenz von Entwicklungstrauma von 33,9 % und zeigen auf, dass 30% der Betroffenen keine Folgeerkrankungen entwickeln (Iffland et al. 2013; McGloin u. Widom 2001 zit. nach Holl et al. 2017). Sie vermuten resiliente Anpassungsprozesse.
Welche Traumaformen lassen sich unterscheiden
- Typ-1-Trauma: Schocktrauma (Krieg, Flucht, (Natur) Katastrophen, Unfälle, Überfälle). Einmaliges Ereignis.
- Typ-2-Trauma: Interpersonelle und langanhaltende Traumata: Sie ereignen sich in sensiblen prä- oder postnatalen Entwicklungsphasen der Kindheit und Jugend. Diese werden auch als Entwicklungs- und Bindungstraumata bezeichnet und umfassen Vernachlässigung, bedeutsame Verlusterfahrungen, Überbehütung sowie emotionale, körperliche und sexualisierte Gewalt. Es handelt sich dabei um wiederholte oder anhaltende Bindungsbelastungen über verschiedene Entwicklungsphasen hinweg.
- Sekundärtrauma (generationsübergreifende Traumata, Mitgefühlserschöpfung, Co-Trauma) oder
- Medizinisches Trauma (Operationen, Diagnosen).
- Rassistisches Trauma.
Körperliche und psychische Folgen komplexer Entwicklungstraumata
Die Auswirkungen von komplexen Entwicklungstraumata erstrecken sich über die gesamte Lebensspanne eines Menschen. Sie können nachhaltige Auswirkungen auf die Entwicklung des Selbstwertgefühls, der Selbstwirksamkeit, der emotionalen Regulation und der Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen, haben. Folgend zeige ich dir einige mögliche Symptome von komplexen Entwicklungstraumata auf.
Mögliche Symptome
- Körperliche Entzündungsprozesse und Symptome wie Herz-Kreislauferkrankungen, Darmerkrankungen, Autoimmunerkrankungen und neuromuskuläre Beschwerden,
- Konzentrationsstörungen,
- Hypoarousal bzw. Hyperarousal (geringe bzw. übermäßige Reizbarkeit),
- Vermeidungsverhalten und
- Schwierigkeiten im Umgang mit Gefühlen und Selbstregulation,
- Missbrauch, Sucht und Abhängigkeit und
- Flashbacks, Angstzustände, Depressionen,
- Schlafstörungen, Albträume, Schreckhaftigkeit,
- Verlust des Sicherheits- und Kohärenzgefühls.
Im weiteren Verlauf zeige ich dir einige der genannten Aspekte genauer.
Wie du die Welt siehst: Durch komplexe Entwicklungstraumata wird dein Sicherheitsgefühl nachhaltig zerstört
Eine traumatische Erfahrung stellt ein existenzielles Erlebnis dar und untergräbt dein Sicherheitsgefühl. Sicherheit ist ein grundlegender Zustand, der das allgemeine Lebensgefühl maßgeblich beeinflusst.
Komplexe Entwicklungstraumata können dazu führen, dass dein grundlegendes Gefühl von Sicherheit und Verbundenheit, auch als Kohärenzgefühl nach Antonovsky bezeichnet, plötzlich und oft dauerhaft erschüttert wird. Diese Erfahrungen verändern deine Wahrnehmung der Welt, und du empfindest möglicherweise Gefahr aus jeder Richtung. Die Welt wird so zu einem unsicheren Ort.
Soziale Folgen: Verlustängste und Bindungsängste durch unsichere Bindungserfahrungen
Weil sich diese Form von Traumata immer im zwischenmenschlichen Bereich ereignen, zeigen sich die Folgen auch auf zwischenmenschlicher Ebene. Sie werden auch als traumatische Bindungserfahrungen oder Bindungstraumata bezeichnet. Eine Folge kann sein, dass du Verlust- oder Bindungsängste entwickelst. Manchmal auch beides gleichzeitig.
On-Off Beziehungen und Misstrauen
Es kann auch sein, dass du in bindungsrelevanten Lebenssituationen leicht getriggert wirst. Das kann zu Schwierigkeiten in Beziehungen führen, wie Familie, Liebe & Partnerschaft (toxische Beziehungen, On-Off Beziehungen) und Freundschaft. Dies ist ein besonders schmerzhaftes Traumaresultat und nicht leicht zu knacken. Im Abschnitt zur transgenerationalen Traumaweitergabe, gehe ich näher auf diesen Aspekt ein. Ich zeige dir, wie Bindungserfahrungen von deinen Bezugspersonen an dich weitergegeben werden können.
Körperliche Folgen: Entzündungsprozesse
Dauerhafter Stress macht krank. Komplexe Entwicklungstraumata können mit körperlichen Beschwerden einhergehen. Diese Symptome können falsch interpretiert werden, wenn die zugrundeliegenden Traumata bei der Diagnosenstellung nicht berücksichtigt werden.
Häufige, mit komplexen Entwicklungstraumata assoziierte, körperliche Symptome sind:
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen,
- Autoimmunstörungen,
- neuromuskuläre Probleme und
- Darmerkrankungen.
Psychische Folgen: Externalisierung und Internalisierung von komplexen Traumafolgen
Komplexe Entwicklungstraumata können zu erheblichem seelischem Leiden führen, da das individuelle Erleben das Individuum nicht nur körperlich, sondern auch seelisch bedroht oder verletzt. Dies kann eine Vielzahl von Symptomen und psychischen Reaktionen hervorrufen. Ich habe diese Symptome oben schon angeführt.
Hier möchte ich sie in internalisierende (u.a. Depression und Ängste) und externalisierende Verhaltensmuster (u.a. Hochrisikoverhalten) einteilen. Interessanterweise zeigen manche Menschen eher internalisierende Traumafolgesymptome und andere eher externalisierende. Ich komme nun nochmal auf die biologischen Reaktionen zurück.
Fight, Flight, Fright und Freeze - Lebensretter mit Langzeitfolgen
Die Reaktionen des Kämpfens, Flüchtens, der Schreckstarre und des Totstellreflexes sind instinktive Überlebensmechanismen, die bei Tieren und Menschen auftreten, wenn sie einer akuten Bedrohung gegenüberstehen. Diese Reaktionen ermöglichen eine schnelle Anpassung an die Gefahrensituation und dienen dazu, das Überleben zu sichern.
Diese Reaktionen werden von komplexen neurobiologischen Abläufen gesteuert, die es dem Organismus ermöglichen, angemessen auf potenzielle Bedrohungen zu reagieren. In Situationen von traumatischen Erfahrungen spielen diese Reaktionen eine entscheidende Rolle und beeinflussen nachhaltig das Verhalten und die Wahrnehmung der betroffenen Person.
Fight & Flight
Kämpfen und Flüchten sind biologische Reaktionen, die darauf abzielen, einer bedrohlichen Situation zu entkommen. In solchen Momenten mobilisiert der Körper durch eine Stressreaktion rasch die erforderlichen Ressourcen für eine aktive Auseinandersetzung oder Flucht. Der Hypothalamus, ein wichtiger Teil des Gehirns, spielt dabei eine Schlüsselrolle. Er erkennt die Bedrohung und setzt eine Kaskade von Reaktionen in Gang.
Unter anderem signalisiert der Hypothalamus der Hypophyse, eine kleine Drüse im Gehirn, die Ausschüttung des Hormons ACTH (adrenocorticotropes Hormon). ACTH gelangt über den Blutkreislauf zur Nebenniere, wo es die Freisetzung von Stresshormonen wie Adrenalin und Noradrenalin anregt. Diese Hormone bewirken eine Beschleunigung von Atmung und Blutdruck. Das Hormon Cortisol wird ebenfalls ausgeschüttet, um den Stoffwechsel anzukurbeln und Energie bereitzustellen. Andere Körpersysteme wie das Immunsystem und die Verdauung werden vorübergehend heruntergefahren, um Energie für die Kampf- oder Fluchtreaktion zu sammeln.
Fright & Freeze
Wenn der Impuls zum Kämpfen oder Fliehen nicht zur Bewältigung der Gefahr beiträgt oder die Situation als ausweglos erscheint, tritt der Zustand der Starre oder des Totstellreflexes ein. Hier gibt das Lebewesen auf und verharrt in einem Zustand der Resignation. Diese Reaktion kann in realen Bedrohungsszenarien hilfreich und lebensrettend sein, Puls und Herzfrequenz werden dabei gedrosselt. Das Denken und die Schmerzempfindung werden vorübergehend ausgeschaltet, und die Erinnerung an diese Phase ist oft nur schwach oder gar nicht vorhanden.
Ein Beispiel aus dem Reich der Säugetiere
Volle Aktivierung für die Flucht
Betrachte diesen biochemischen Ablauf am Beispiel des Überlebenskampfes einer Gazelle: Ein Löwe ist auf der Jagd, um die Gazelle zu erbeuten. Nach einigen Kilometern Sprint gelingt es der Gazelle zu entkommen (Kampf und Flucht aktiviert). Jetzt ist die Gazelle im Schockzustand, zittert am ganzen Körper bis die Stresshormone abgebaut sind und grast dann friedlich weiter.
Shut down als letzte Möglichkeit
Nehmen wir an, der Löwe erwischt sie. Jetzt setzt bei ihr die Erstarrung und der Totstellreflex ein, in der Hoffnung, dass der Löwe von ihr ablässt. Wenn er dies nicht tut, dann ist das gefressen werden wenigstens einfacher auszuhalten. Schmerz und Erinnerung werden bei der Gazelle abgeschaltet. Wie auch beim Menschen kennt das Stammhirn der Gazelle nur vier Reaktionsmuster als Überlebensstrategie: Kampf, Flucht, Erstarrung und Totstellreflex.
An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Reaktion auf ein Trauma eine sinnvolle Stressreaktion deines Systems ist, eine normale Antwort auf ein außergewöhnliches Ereignis. Wenn jedoch dieser Stresszustand häufiger auftritt und chronisch wird, beispielsweise durch komplexe Entwicklungstraumata, resultieren daraus langanhaltende Auswirkungen, die als komplexe Traumafolgen bezeichnet werden. Ein komplexes Entwicklungstrauma kann als anhaltender Hochstress betrachtet werden und bringt das System deiner Stressregulation in eine dauerhafte Dysbalance, wodurch die Traumafolgen entstehen. Das zeige ich dir nun etwas genauer.
Dysregulierte Erregungszustände
Stresssymptome nach traumatischen Erfahrungen durch interpersonelle und langanhaltende Traumaerfahrungen
Du hast gesehen, dass dein Nervensystem verantwortlich ist für die Antwort auf bedrohliche Erfahrungen. Quasi als Überlebensmechanismus. Bleibt ein Trauma unverarbeitet, kann es chronisch werden und zeigt sich über Reaktionen deines autonomen Nervensystems (ANS). Durch den Dauerbeschuss mit Stresshormonen, werden diese Hormone nicht mehr runterreguliert und deine Stressachse (HPA-Achse) kommt aus der Balance.
Hierüber kann es wiederum zu Veränderungen in verschiedenen Gehirnregionen (u.a. Amygdala, Hippocampus, präfrontaler Cortex) kommen. Die daraus resultierenden Symptome von Trauma können unterschiedlich sein, wie du oben schon gesehen hast. Sie hängen von der Art des Traumas, der Dauer des Traumas, dem Alter zum Zeitpunkt des Traumas, der individuellen Erfahrung, deiner Resilienz und anderen umgebenden Schutz- und Risikofaktoren ab. Du kannst es aber vereinfachend auf zwei Betrachtungsebenen runterbrechen:
Mögliche dauerhafte Über- oder Untererregung
- Übererregung/Hyperarousal (Fight & Flight = Sympatikus aktiv) macht sich bemerkbar durch vermehrte Anspannung und Schwierigkeiten zu entspannen, Reizbarkeit, Aggressivität, Konzentrationsstörungen, übermäßige Wachsamkeit, Schreckhaftigkeit, Angst und Panik, Ein- und Durchschlafstörungen, Albträume und psychosomatische Symptome (Darm, Bauch, ♥️ Herz).
Auf der anderen Seite zeigt sich Untererregung/Hypoarousal (Fright & Freeze = Aktivierung des parasympathischen Nervensystems) durch eine Abnahme der Nervensystemaktivität. Dies äußert sich in Erschöpfung, Kraftlosigkeit, Mangel an Interesse, Depression, dissoziativem Verhalten, dem Bedürfnis, in Fantasiewelten zu fliehen, einem Gefühl der Sinnlosigkeit sowie dem Empfinden, von anderen Menschen abgeschnitten zu sein.
Dissoziation - alles zusammen
Es kann auch vorkommen, dass du zwischen dem Zustand der Untererregung/Abschaltung und dem der Erregung hin- und herpendelst oder sogar beide Zustände gleichzeitig in deinem Körper erlebst. Diese Erfahrung kann sich so anfühlen, als würdest du mit einer Geschwindigkeit von 300 Stundenkilometern über die Autobahn fahren, während du gleichzeitig die Handbremse ziehst.
Dieser Zustand heißt Dissoziation. Sie tritt auf, wenn es zu einer Trennung von normalerweise miteinander verbundenen psychischen Prozessen kommt. Das führt dann zu Gefühlen der Abschaltung, der Erregung oder einem Wechsel zwischen beiden Zuständen. Es ist zunächst auch ein sinnvoller Schutzmechanismus deines Gehirns, um überflutende Reize auszuhalten.
Autopilot
Wenn diese biologischen Reaktionen chronisch werden, verlierst du oft den direkten Zugang zu deinem eigenen Befinden, da du quasi auf Autopiloten schaltest. Du kannst möglicherweise nicht genau wahrnehmen oder erkennen, was mit dir geschieht, da dein Körper automatisch reagiert – im Überlebensmodus. Denke daran, dass dies kein psychischer oder körperlicher Defekt, sondern eine Schutzfunktion ist! Es hat dir beim (emotionalen) Überleben geholfen. Durch die Dysregulation deiner Stressachse und Veränderungen in Gehirnregionen kann es schwierig sein, eigene Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen und dich selbst zu regulieren. Das kann man aber lernen! Dazu unten mehr.
Zeit heilt alle Wunden, oder etwa nicht
Diese biologischen Achsen sind der Kernpunkt der auftretenden Symptome, selbst wenn das traumatische Ereignis bereits viele Jahre und Jahrzehnte zurückliegt, kann es leicht passieren, dass diese Reaktionen reaktiviert werden. Es kann auch sein, dass sie chronisch aktiviert sind. Zeit heilt eben nicht immer alle Wunden.
Komorbiditäten, Komplexitätsreduktion und Fehldiagnosen im Traumakontext
Komplexe Traumafolgesymptome können fehlinterpretiert werden, insbesondere im Zusammenhang mit Störungsbildern wie ADHS, Borderline, Delinquenz, Dissozialität und Hochrisikoverhalten. Aktuelle Daten deuten auch darauf hin, dass Alexithymie (Dietzer 2023) und Hochsensibilität mit der Erfahrung von komplexen Entwicklungstraumata verbunden sein können.
Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS)
Die Diagnosen der (kPTBS (Komplexe/Posttraumatische Belastungsstörung) nach ICD-11 können die Konsequenzen von komplexen Entwicklungstraumafolgen nicht angemessen erfassen (Reddemann 2022). Diagnosesysteme führen zu zahlreichen Komorbiditäten und Überlappungen. Differenzialdiagnosen werden manchmal nicht berücksichtig. Solche Fehleinschätzungen haben dann leider auch ineffektive therapeutische Interventionen und (Selbst)Stigmatisierung zur Folge. Zumeist werden bei der Diagnosenstellung mit Diagnosesystemen Umweltfaktoren, wie der biografische Kontext, neurobiologische Erkenntnisse, Wechselwirkungen sowie der Sinn und die Bedeutung von Symptomen vernachlässigt.
Das Problem mit Symptomen & Bias
Ein Symptom ist quasi die Endstrecke einer Krankheit. Der Betroffene wird dann im Erziehungs-, Hilfe-, Straf- oder Maßregelsystem oft nur noch als Element einer psychischen oder körperlichen Erkrankung angesehen. Besser wäre es, die subjektiven Bedeutungen, den Kontext und den Sinn der Symptome zu verstehen. Antidepressiva oder die Entfernung eines Darmabschnitts können Symptome lindern, sind aber möglicherweise nicht die Ursache deiner Beschwerden. Eine langjährige Gesprächspsychotherapie oder eine langjährige Haftstrafe bringt oft auch nicht viel. Im schlimmsten Fall wird hier verschlimmbessert, pathologisiert und es erfolgt keine wirksame Rückfallprävention. Du merkst es daran, dass nichts wirklich besser wird, du dich sogar schlechter fühlst. Es benötigt eine integrative Betrachtung der individuellen biopsychosozialen Ebene, der Wechselwirkungen und der unterschiedlichen Kontextfaktoren 🙂
Schuld, Scham, Opfer- und Täterdasein
Komplexe Entwicklungstaumata sind oft von Scham und Schuldgefühlen oder einer Opferhaltung (Internalisierung) begleitet. Manche Menschen begeben sich auch in die Täterschaft (Externalisierung, Reviktimisierung, Täterintrojekt). Das ist auch ein Weg, Traumafolgen zu „verarbeiten“. Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben können außerdem Misstrauen haben und zögern, ihre Symptome offen zu kommunizieren oder professionelle Hilfe zu suchen.
Transgenerationale & kollektive Traumata durch epigenetische Einflüsse
Epigenetik
Was sich zunächst erstmal merkwürdig anhört, ist diese Tatsache: Du musst nicht selbst ein Trauma erfahren haben, um unter Traumasymptomen zu leiden (u.a. Levine 2016). Ich zeige dir, wie das funktioniert, bevor ich genauer darauf eingehe, was kollektive Traumata sind.
Epigenetik beschäftigt sich mit der Auswirkung äußerer Einflüsse und Erfahrungen auf unser Erbgut. Nämlich wie die gesammelten Erfahrungen während des Lebens der Vorfahren, Großeltern und Eltern, einen Einfluss auf die Gene der Nachkommen haben und welche Rolle sie bei der Entwicklung der Kinder spielen. Frühere Annahmen besagten, dass unsere Gene unveränderlich sind und unser Schicksal vorbestimmen. Die Epigenetik hat jedoch gezeigt, dass dies nicht der Fall ist.
Psychische Erkrankungen durch Umwelteinflüsse
Epigenetik ist das Bindeglied zwischen Umwelteinflüssen und Genen und bestimmt, unter welchen Umständen welches Gen an- oder abgeschaltet wird (Genregulation), ohne dass sich dabei die DNA-Sequenz selbst ändert. Du kannst dir das Vorstellen, wie der Dimmer an einer Lampe.
Diese Veränderungen können durch Umweltfaktoren wie Stress, Ernährung, Toxine und auch traumatische Erfahrungen beeinflusst werden. Es gibt wachsende Hinweise darauf, dass diese Veränderungen durch Traumata nicht nur die betroffene Person selbst, sondern auch nachfolgende Generationen beeinflussen können.
Bindungsverhalten wird vererbt
Hierüber können wir uns erklären, warum Bindungsverhalten und Traumata der Großeltern oder Eltern Auswirkungen auf das Leben der Kinder und Kindeskinder haben. Aber das funktioniert nicht nur auf individueller Ebene, sondern läuft auch auf der kollektiven Ebene (Kultur) ab. Du musst die Bedrohung also nicht selbst erlebt haben, und leidest dennoch an denselben oder ähnlichen Symptomen, wie die Person oder das Kollektiv, dass diese Traumata erlebt hat.
Gesellschaftliche Traumata und Retraumatisierung
Es kann durch verschiedene Ereignisse ausgelöst werden, wie beispielsweise Kriege, Völkermorde, Naturkatastrophen, politische Repression, Sklaverei oder andere Formen von systematischer Unterdrückung und Rassismus. Diese Ereignisse führen zu weitreichenden psychischen, emotionalen und sozialen Auswirkungen auf die betroffenen Gemeinschaften.
Diese Traumata werden oft von einer Übertragung des Traumas über Generationen hinweg begleitet. Dies bedeutet, dass die Auswirkungen des Traumas von den Überlebenden auf ihre Nachkommen übertragen werden können, sei es durch familiäre Bindungen, kulturelle Normen oder ungelöste emotionale Probleme.
Wie können komplexe Entwicklungstraumata heilen
Suche Entspannung und Freude! Nimm dich selbst an! Verstehe, was passiert ist! Verzeihe, wenn es geht!
Nachdem du die Zusammenhänge verstehst, kannst du in die Integration und auf die Handlungsebene gehen. Forschungsarbeiten zur Epigenetik gehen davon aus, dass sich durch eine stressfreie Umgebung, genetische Effekte umkehren lassen. Außerdem ist dein Gehirn neuroplastisch und lebenslang in der Lage sich weiterzuentwickeln. Dabei spielt Freude eine große Rolle 😉 Dein Gehirn kann sich an neue Lebensbedingungen anpassen, vor allem wenn du die Veränderungen mit Freude und Begeisterung tust.
Vermeide, was dir nicht gut tut!
Achte darauf, dass auf dem Weg der Heilung keine Retraumatisierungen stattfinden. Früher glaubte man, dass alle Erfahrungen wiedererlebt und aufgearbeitet werden müssten. Dies ist jedoch falsch. Auch Substanzkonsum verlängert den Heilungsprozess. Beziehe alle Ebenen (Körper, Seele und Geist) ein. Was dir bei komplexen Entwicklungstrauma helfen kann:
Das Ziel sollte darin bestehen, bewusst wahrzunehmen, was in deinem System vorgeht und was diese Reaktionen auslöst. Deine Selbstwahrnehmung kannst du schulen. Du kannst zum Experten deiner eigenen Erfahrungen werden. Die Integration ist entscheidend: Dabei geht es um die Reconnection, also der Verbindung von Körper, Geist und Seele. Mit dem Ziel, das Nervensystem ins Gleichgewicht zu bringen und Entspannung und Sicherheit ins System zu bringen. Dabei ist die enge Einbeziehung deines Körpers (inklusive Interozeption) und die Emotionsregulation von höchster Bedeutung! Trauma ist quasi Stress (und doch viel mehr). Stress ist weltweit die Hauptursache für körperliche und psychische Erkrankungen (Vulnerabilitäts-Stress-Modell; WHO, World Health Report 2001).
Wichtig 🙂
Nimm dir Support auf Augenhöhe mit ins Boot!
- Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR)
- Emotional Freedom Technik (EFT)
- Narrative Verfahren
- Körperorientierte Verfahren: Somatic Experiencing (SE), Tension and Trauma Releasing Exercises (TRE), Sensorimotor Psychotherapy, Yoga
- Imaginative Verfahren
- Sport, Entspannung, Achtsamkeit, Natur & Tiere
- Unterstützung und stabile soziale Bindungen helfen das Gefühl von Verbundenheit und Sicherheit wiederherzustellen.
Genau hier beißt sich die Katze in den Schwanz 🙂 Kennst du das Gefühl, alles alleine schaffen zu müssen oder die familiären Geheimnisse bloß nicht offen zu legen, alles unter den Teppich zu kehren? Sich selbst für alles schuldig und verantwortlich zu fühlen? Und dieses üble Schamgefühl? Ach ja, und dann noch das Misstrauen… Dies können Traumafolgen sein 😉 Lass uns Tabus brechen!
Hast du Fragen zum Thema komplexe Entwicklungstraumata?
Ich stehe dir kostenlos für deine Fragen im Kontext
einer trauma- diversitätssensiblen psychosozialen Beratung zur Verfügung.
Unterstützung bei Beratung und Beratungskosten
Du kannst über das Ergänzende Hilfesystem (EHS) mit dem Fonds Sexueller Missbrauch (FSM) Unterstützung finden, wenn andere Leistungsträger nicht (mehr) helfen. Über den Fonds besteht die Möglichkeit, Traumafachberatung mit mir abzurechnen. Als systemische Traumafachberaterin bin ich beim Fonds gelistet und anerkannt. Bitte sprich mich hierauf an. Ich unterstütze dich gerne dabei. Außerdem ist möglicherweise der Weisse Ring eine gute Anlaufstelle für dich.
Was ist ein Trauma
Ein Trauma bezieht sich auf eine belastende Erfahrung oder Ereignis, das eine starke emotionale Reaktion hervorruft und das individuelle Bewältigungsfähigkeiten überfordert.
Was ist ein komplexes Entwicklungstrauma
Komplexe Entwicklungstraumata sind wiederholte und langanhaltende traumatische Erfahrungen. Sie entstehen in sensiblen prä- und postnatalen Entwicklungsphasen der Kindheit, Jugend, sowie im Erwachsenenalter. Sie werden meist von nahen Bezugspersonen verursacht. Das kann auch unabsichtlich geschehen, weil deine Bezugsperson sich selbst emotional nicht regulieren kann. Dadurch konnte sie auch dich nicht spiegeln und regulieren. Bindungserfahrungen werden über diesen Weg auch epigenetisch weitergegeben. Diese Form von traumatischer Erfahrung kann die Entwicklung beeinträchtigen. Sie hat vielfältige Auswirkungen auf die psychische und körperliche Gesundheit, über die gesamte Lebensspanne eines Menschen. Komplexe Traumafolgen zeigen sich oft in externalisierenden und internalisierenden Verhaltensweisen und werden häufig fehlinterpretiert.
Warum erfassen die gültigen Diagnosekriterien diese Traumaform nicht angemessen
Die Diagnosen PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) und KPTBS (Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung) erfassen nicht die vielfältigen und langfristigen Auswirkungen von komplexen Entwicklungstraumata, die oft eine umfassendere Betrachtung ihrer sozialen Entstehung, dem Kontext, dem Zeitpunkt und der individuellen körperlichen und psychischen Reaktionen erfordern.
Quellen und weiterführende Links zu Komplexe Entwicklungstraumata:
- Bessel van der Kolk (2014): The Body Keeps the Score: Brain, Mind, and Body in the Healing of Trauma
- Deb Dana (2018) Polyvagal Theory in Therapy: Engaging the Rhythm of Regulation – beschreibt die Anwendung der Polyvagal-Theorie in der therapeutischen Praxis und beinhaltet praktische Übungen zur Regulation des Nervensystems.
- Stephen Porges (2017): The Pocket Guide to the Polyvagal Theory: The Transformative Power of Feeling Safe – Leitfaden zur Polyvagal-Theorie und ihrer Anwendung in der Selbstregulation und in der therapeutischen Praxis.
- Traumsensibles Anti-Gewalt-Training
- MPU wegen körperlichen und geistigen Handicaps
- Bindungsstile und Suchtentwicklung
- MPU wegen Drogen
- MPU wegen Alkohol
- High Sensation Seeking
- Titelbild @AdelinaZwPixabay