Prävalenz von komplexen Entwicklungstrauma in Deutschland
Typ-II-Trauma oder komplexes Entwicklungstrauma ist kein Randphänomen. Missbrauchserfahrungen (sexueller, physischer, emotionaler Missbrauch sowie physische, emotionale Vernachlässigung) im Kindes- und Jugendalter sind, mit einer Prävalenz von 33,9%, in Deutschland weit verbreitet und haben starke und komplexe Auswirkungen auf die gesamte Lebensspanne eines Menschen.
Im Vergleich zum Typ-1-Trauma (Schocktrauma) ist das Typ-2-Trauma bei Fachkräften oder den Betroffenen selbst oft nicht präsent, da es erst durch die Etablierung der Psychotraumatologie langsam ins Bewusstsein gelangt. In anderen Ländern ist man in dieser Hinsicht fortschrittlicher als in Deutschland.
Welche Traumaformen lassen sich unterscheiden
- Typ-1-Trauma: Schocktrauma (Krieg, Flucht, (Natur) Katastrophen, Unfälle, Überfälle). Einmaliges Ereignis.
- Typ-2-Trauma: Entwicklungs- und Bindungstrauma (Vernachlässigung, Trennungen, Überbehütung, emotionale, körperliche, sexualisierte Gewalt). Mehrfache Belastungen über die Entwicklungsphasen hinweg.
- Sekundärtrauma (generationsübergreifende Traumata, Mitgefühlserschöpfung, Co-Trauma) oder
- Medizinisches Trauma (Operationen, Diagnosen).
Was bedeutet Trauma, Entwicklungstrauma, komplexes Trauma und Typ-2-Trauma und welche Folgen hat es
Definition von Entwicklungstrauma
Ein psychisches Trauma bezeichnet eine starke seelische Verletzung, die durch ein extrem belastendes Ereignis oder eine Vielzahl kleinerer seelischer Verletzungen hervorgerufen wird.
Typ-2-Trauma bezeichnet wiederholt auftretende oder anhaltende interpersonelle traumatische Erfahrungen oft in früher Kindheit oder Jugend, in Form von emotionalen, physischen und sexuellen Missbrauch sowie emotionaler und physischer Vernachlässigung.
Nachhaltige körperliche und psychische Folgen über die gesamte Lebensspanne
Die Erfahrungen von Typ-2-Trauma haben einen nachhaltigen Einfluss auf die gesamte Lebensspanne eines Menschen. Sie können die Entwicklung des Selbstwertgefühls, der Selbstwirksamkeit, der emotionalen Regulierung und der Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen, für das gesamte Leben eines Menschen beeinträchtigen.
Körperliche Folgen
Es kann durch Typ-2-Trauma zu körperlichen Beschwerden kommen, wie Herz-Kreislauf-, Autoimmun- , neuromuskuläre- und Darmerkrankungen. Dies kann zu Fehlinterpretationen der Symptome und zu Fehldiagnosen führen.
Psychische Folgen
Typ-2-Trauma führt zu starkem seelischem Leiden, da das individuelle Erleben das Individuum physisch oder psychisch bedroht oder verletzt wird. Es kann eine Vielzahl von Symptomen und psychischen Reaktionen hervorrufen, wie beispielsweise Flashbacks, Albträume, Angstzustände, Depressionen, Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, Hypoarousal bzw. Hyperarousal (geringe bzw. übermäßige Reizbarkeit), Vermeidungsverhalten und Schwierigkeiten im Umgang mit Gefühlen und Selbstregulation, Missbrauch, Sucht und Abhängigkeit und Verlust des Sicherheits- und Kohärenzgefühls. Hier kann es zu Fehlinterpretation der komplexen Traumafolgesymptome kommen mit ADHS, Borderline, Delinquenz und Hochrisikoverhalten.
Es gibt aktuelle Daten, die zeigen, dass Alexithymie (Dietzer 2023) und Hochsensibilität mit Entwicklungstrauma verknüpft sein können.
Durch ein Trauma wird dein Sicherheitsgefühl nachhaltig zerstört
Eine traumatische Erfahrung stellt ein existenzielles Erlebnis dar und untergräbt dein Sicherheitsgefühl. Sicherheit ist ein grundlegender Zustand, der das allgemeine Lebensgefühl maßgeblich beeinflusst, oft ohne, dass diese Wirkung im normalen Verlauf bewusst wahrgenommen wird.
Du gehst einfach davon aus, dass:
- die Person, die als Kind auf dich aufpasst, dich nicht alleine lässt, emotional verfügbar ist, dich beschützt und deine Bedürfnisse angemessen beantwortet,
- Zuhause keine körperliche oder sexuelle Gewalt an dir oder anderen verübt wird,
- du beobachten musst, wie ein Familienmitglied gedemütigt oder geschlagen wird,
- das Haus, in dem du lebst, dir Sicherheit gibt und dort nicht permanent Streit herrscht,
- du nicht ständigem Leistungsdruck oder Herabwürdigung ausgesetzt bist,
- du nicht dauerhaft kontrolliert wirst und deine Grenzen missachtet werden.
Typ-2-Trauma kann dazu führen, dass dein grundlegendes Gefühl von Sicherheit und Verbundenheit (Kohärenzgefühl, Antonovsky) plötzlich und oft dauerhaft erschüttert wird. Diese Erfahrungen verändern deine Wahrnehmung der Welt, und du empfindest Gefahr möglicherweise aus jeder Richtung. Dies geschieht aufgrund der Reaktion deines Nervensystems. Dein Körper aktiviert den Kampf- oder Fluchtmodus oder geht in die Schreckstarre oder den Totstellreflex, um dir die Chance zu geben, in Sicherheit zu gelangen.
Fight, Flight, Fright und Freeze - Lebensretter mit Langzeitfolgen
Kämpfen, Flüchten, Schreckstarre und Totstellreflex – sind instinktive Überlebensmechanismen, die bei Tieren und Menschen auftreten, wenn sie mit einer akuten Bedrohung konfrontiert sind. Diese Reaktionen ermöglichen eine schnelle Anpassung an die Gefahrensituation und dienen dazu, das Überleben zu sichern.
Sie werden von komplexen neurobiologischen Abläufen gesteuert, die es dem Organismus ermöglichen, auf eine potenzielle Bedrohung angemessen zu reagieren. In Situationen von Typ-2-Trauma spielen diese Reaktionen eine entscheidende Rolle und beeinflussen nachhaltig das Verhalten und die Wahrnehmung der betroffenen Person. In späteren Lebenssituationen können diese Abläufe unbewusst reaktiviert werden durch Trigger.
Kämpfen und Flüchten sind biologische Reaktionen, die darauf abzielen, einer bedrohlichen Situation zu entkommen. In solchen Momenten mobilisiert der Körper durch eine Stressreaktion rasch die erforderlichen Ressourcen für eine aktive Auseinandersetzung oder Flucht. Der Hypothalamus, ein wichtiger Teil des Gehirns, spielt dabei eine Schlüsselrolle. Er erkennt die Bedrohung und setzt eine Kaskade von Reaktionen in Gang. Unter anderem signalisiert der Hypothalamus der Hypophyse, eine kleine Drüse im Gehirn, die Ausschüttung des Hormons ACTH (adrenocorticotropes Hormon). ACTH gelangt über den Blutkreislauf zur Nebenniere, wo es die Freisetzung von Stresshormonen wie Adrenalin und Noradrenalin anregt. Diese Hormone bewirken eine Beschleunigung von Atmung und Blutdruck. Das Hormon Cortisol wird ebenfalls ausgeschüttet, um den Stoffwechsel anzukurbeln und Energie bereitzustellen. Andere Körpersysteme wie das Immunsystem und die Verdauung werden vorübergehend heruntergefahren, um Energie für die Kampf- oder Fluchtreaktion zu sammeln.
Wenn der Impuls zum Kämpfen oder Fliehen nicht zur Bewältigung der Gefahr beiträgt oder die Situation als ausweglos erscheint, tritt der Zustand der Starre oder des Totstellreflexes ein. Hier gibt das Lebewesen auf und verharrt in einem Zustand der Resignation. Diese Reaktion kann in realen Bedrohungsszenarien hilfreich und lebensrettend sein, Puls und Herzfrequenz werden dabei gedrosselt. Das Denken und die Schmerzempfindung werden vorübergehend ausgeschaltet, und die Erinnerung an diese Phase ist oft nur schwach oder gar nicht vorhanden.

Betrachte diesen biochemischen Ablauf am Beispiel des Überlebenskampfes einer Gazelle: Ein Löwe ist auf der Jagd, um die Gazelle zu erbeuten. Nach einigen Kilometern Sprint gelingt es der Gazelle zu entkommen (Kampf und Flucht aktiviert). Jetzt ist die Gazelle im Schockzustand, zittert am ganzen Körper bis die Stresshormone abgebaut sind und grast dann friedlich weiter.
Nehmen wir an, der Löwe erwischt sie. Jetzt setzt bei ihr die Erstarrung und der Totstellreflex ein, in der Hoffnung, dass der Löwe von ihr ablässt. Wie auch beim Menschen kennt das Stammhirn der Gazelle nur vier Reaktionsmuster als Überlebensstrategie: Kampf, Flucht, Erstarrung und Totstellreflex.
An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Reaktion auf ein Trauma eine sinnvolle Stressreaktion deines Systems ist und eine zunächst völlig normale Antwort auf ein außergewöhnliches Ereignis darstellt. Wenn jedoch dieser Stresszustand häufiger auftritt und chronisch wird (durch ein komplexes Entwicklungstrauma), resultieren daraus langanhaltende Auswirkungen, die als komplexe Traumafolgen bezeichnet werden.
Dysregulierte Erregungszustände
Stresssymptome nach traumatischen Erfahrungen
Du hast gesehen, dass dein Nervensystem verantwortlich ist für die Antwort auf bedrohliche Erfahrungen. Quasi als Überlebensmechanismus. Bleibt ein Typ-2-Trauma unverarbeitet, kann es chronisch werden und zeigt sich über Reaktionen deines autonomen Nervensystems (ANS). Die Symptome von Trauma können unterschiedlich sein und hängen von der Art des Traumas, der individuellen Erfahrung, deiner Resilienz und anderen Faktoren ab.
- Übererregung/Hyperarousal (Kampf- oder Flucht = Sympatikus aktiv) macht sich bemerkbar durch vermehrte Anspannung und Schwierigkeiten zu entspannen, Reizbarkeit, Aggressivität, Konzentrationsstörungen, übermäßige Wachsamkeit, Schreckhaftigkeit, Angst und Panik, Ein- und Durchschlafstörungen, Albträume und psychosomatische Symptome (Darm, Bauch, ♥️ Herz).
Auf der anderen Seite zeigt sich Untererregung/Hypoarousal (Aktivierung des parasympathischen Nervensystems) durch eine Abnahme der Nervensystemaktivität. Dies äußert sich in Erschöpfung, Kraftlosigkeit, Mangel an Interesse, Depression, dissoziativem Verhalten, dem Bedürfnis, in Fantasiewelten zu fliehen, einem Gefühl der Sinnlosigkeit sowie dem Empfinden, von anderen Menschen abgeschnitten zu sein.
Reaktivierung der Stresssymptome im späteren Leben
Bei ähnlichen Auslösern (Triggern), Flashbacks oder Retraumatisierung können diese Erfahrungen automatisch durch dein Nervensystem wieder aufleben. Dies führt dazu, dass dein Organismus in einem anhaltenden Stresszustand (Hyperaousal) verharrt, in eine Art Abschaltung (Hypoarousal) oder Dissoziation gerät. Ebenso kannst du dein Sicherheitsgefühl- und Kohärenzgefühl verlieren.
Hyperarousal
Stelle dir vor, jemand wurde als Kind wiederholt vernachlässigt und misshandelt. In späteren bedrohlichen Situationen, wie einem plötzlichen Konflikt, bei dem bestimmte Auslöser, sogenannte Trigger, auftreten, kann diese Person aufgrund ihrer traumatischen Erfahrungen in einen Kampf- oder Fluchtzustand geraten. Die Reaktion kann auf Außenstehende unverhältnismäßig und aggressiv wirken. Er ist quasi in seinem Überlebensmodus.
Hypoarousal
Die Reaktion eines Menschen kann alternativ auch in den Erstarrungszustand (Freeze) oder den Totstellreflex übergehen. Dies dient dazu, mögliche Verletzungen abzuwehren und eine Überlebenschance zu wahren, wenn Kampf und Flucht aussichtslos erscheinen. Die unbewusste Wahl des Überlebensmechanismus hängt oft mit dem in der Kindheit erlernten Mechanismus zusammen.
Dissoziation - alles zusammen
Es kann auch vorkommen, dass du zwischen dem Zustand der Abschaltung und dem der Erregung hin- und herpendelst oder sogar beide Zustände gleichzeitig in deinem Körper erlebst. Diese Erfahrung kann sich so anfühlen, als würdest du mit einer Geschwindigkeit von 300 Stundenkilometern über die Autobahn fahren, während du gleichzeitig die Handbremse ziehst. Dieser Zustand heißt Dissoziation und tritt auf, wenn es zu einer Trennung von normalerweise miteinander verbundenen psychischen Prozessen kommt, was zu Gefühlen der Abschaltung, der Erregung oder einem Wechsel zwischen beiden Zuständen führen kann.
Verlust von Köharenz- und Sicherheitsgefühl
Zusätzlich zum Ablauf dieser alten Überlebensmechanismen ist es möglich, dass du die Welt als einen unsicheren Ort wahrnimmst und dich während dieser Zustände fremd und von anderen Menschen getrennt fühlst. Diese Gefühle der inneren Isolation und Unsicherheit entsteht, weil traumatische Erfahrungen langfristig in deinem Seelenleben, deinem Gehirn und deinem Körper gespeichert werden.
Verlustängste und Bindungsängste durch unsichere Bindungserfahrungen
Außerdem führen traumatische Bindungserfahrungen oft dazu, dass du Verlust- oder Bindungsängste entwickelst, manchmal auch beides gleichzeitig oder dass du in bindungsrelevanten Lebenssituationen leicht getriggert wirst. Das kann zu Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen, insbesondere nahen Beziehungen führen, wie Familie, Liebe & Partnerschaft (toxische Beziehungen, On-Off Beziehungen) und Freundschaft. Dies ist ein besonders schmerzhaftes Traumaresultat und nicht leicht zu knacken.
Autopilot
Wenn diese chronischen biologischen Reaktionen auftreten, verlierst du oft den direkten Zugang zu deinem eigenen Befinden, da du quasi auf Autopiloten schaltest. Du kannst möglicherweise nicht genau wahrnehmen oder erkennen, was mit dir geschieht, da dein Körper automatisch reagiert – im Überlebensmodus.
Individuelle Reaktionen
Dies verdeutlicht, wie vergangene traumatische Erfahrungen die Art und Weise beeinflussen können, wie jemand auf gegenwärtige Stresssituationen reagiert. Die spezifische Erfahrung, die zu einem bestimmten Erregungszustand führt, kann stark von individuellen und Umweltfaktoren abhängen, einschließlich der Art des Traumas, der persönlichen Resilienz, früherer Erfahrungen und der individuellen neurobiologischen Reaktion.
Zeit heilt alle Wunden, oder etwa nicht?
Diese biologischen Achsen sind der Kernpunkt der auftretenden Symptome, selbst wenn das traumatische Ereignis bereits viele Jahre und Jahrzehnte zurückliegt. Zeit heilt eben nicht immer alle Wunden. Es wird auch der Zusammenhang zu Missbrauch, Sucht und Abhängigkeit verständlich und warum Substanzgebrauch (Artikel: Trauma und Sucht) oder Hochrisikoverhalten im Sinne einer Selbstregulation eingesetzt werden aber keine dauerhafte Erleichterung bringen können, genauso wenig wie eine langjährige Gesprächspsychotherapie oder Medikamenteneinnahme. Ein umfassender Ansatz erfordert die Integration von Körper, Seele, Geist und der Handlungsebene, um diese tief verwurzelten und komplexen Traumareaktionen wirksam zu bewältigen und zu integrieren.
Komorbiditäten, Komplexitätsreduktion und Fehldiagnosen
Die (K)PTBS (Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung) nach ICD-11 kann die Konsequenzen von Typ-2-Trauma nicht angemessen erfassen (Reddemann). Diagnosesysteme führen zu zahlreichen Komorbiditäten, Überlappungen und Differenzialdiagnosen werden manchmal nicht berücksichtig. Solch eine Fehldiagnose hat dann leider auch ineffektive therapeutische Interventionen zur Folge. Zumeist werden bei der Diagnosenstellung Umweltfaktoren, wie der biografische Kontext, neurobiologische Erkenntnisse sowie der Sinn und die Bedeutung von Symptomen vernachlässigt.
Ein Symptom ist quasi bereits die Endstrecke einer Krankheit. Der Betroffene wird dann oft nur noch als Element einer psychischen Erkrankung angesehen, anstatt die Bedeutungen und den Sinn der Symptome zu verstehen. Antidepressiva oder die Entfernung eines Darmabschnitts können Symptome lindern, sind aber manchmal nicht die Ursache deiner Beschwerden. Im schlimmsten Fall wird hier verschlimmbessert und pathologisiert. Du merkst es daran, dass nichts wirklich besser wird, du dich sogar schlechter fühlst.
Trauma-bedingte Veränderungen im Gehirn und Körper: Traumatische Erfahrungen können Veränderungen im Gehirn und im Körper verursachen, die zu einer Vielzahl von Symptomen führen können. Diese Veränderungen können die Art und Weise beeinflussen, wie das Gehirn mit Stress umgeht, Emotionen reguliert und Informationen verarbeitet. Typ-2-Trauma kann eine Vielzahl von Symptomen verursachen, die denen anderer psychischer oder körperlicher Erkrankungen ähneln.
Du selbst kannst die ständige Übererregung als Angst oder Stress interpretieren, während Experten vielleicht Diagnosen wie ADHS, Borderline oder delinquentes Verhalten in Betracht ziehen. Die Unterregung wiederum könnte als Depression oder Angsterkrankung fehlinterpretiert werden. Möglicherweise manifestieren sich auch körperliche Symptome wie neuromuskuläre Beschwerden, Magen-Darm-Probleme, Herzerkrankungen oder Autoimmunerkrankungen.
Schuld und Scham: Trauma ist oft von Scham und Schuldgefühlen begleitet. Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben können zögern, ihre Symptome offen zu kommunizieren oder professionelle Hilfe zu suchen. Dies kann zu einer unvollständigen Erfassung der zugrunde liegenden Probleme führen und die Wahrscheinlichkeit von Fehldiagnosen erhöhen.
Das Ziel sollte darin bestehen, bewusst wahrzunehmen, was in deinem System vorgeht und was diese Reaktionen auslöst. Du kannst zum Experten deiner eigenen Erfahrungen werden. Die Integration ist entscheidend: Dabei geht es um die Reconnection, also der Verbindung von Körper, Geist und Seele, mit dem Ziel, das Nervensystem ins Gleichgewicht zu bringen und Entspannung ins System zu bringen. Dabei ist die enge Einbeziehung deines Körpers (inklusive Interozeption) und die Emotionsregulation von höchster Bedeutung! Trauma ist quasi Stress (und doch viel mehr). Stress ist weltweit die Hauptursache für körperliche und psychische Erkrankungen (Vulnerabilitäts-Stress-Modell; WHO, World Health Report 2001).
Wichtig 🙂
Transgenerationale & kollektive Traumata
Epigenetik
Was sich zunächst erstmal merkwürdig anhört, ist diese Tatsache: Du musst nicht selbst ein Trauma erfahren haben, um unter Traumasymptomen zu leiden (u.a. Levine, 2016). Ich zeige dir, wie das funktioniert, bevor ich genauer darauf eingehe, was kollektive Traumata sind.
Epigenetik beschäftigt sich mit der Auswirkung äußerer Einflüsse und Erfahrungen auf unser Erbgut. Nämlich wie die gesammelten Erfahrungen während des Lebens der Vorfahren, Großeltern und Eltern, einen Einfluss auf die Gene der Nachkommen haben und welche Rolle sie bei der Entwicklung der Kinder spielen. Frühere Annahmen besagten, dass unsere Gene unveränderlich sind und unser Schicksal vorbestimmen. Die Epigenetik hat jedoch gezeigt, dass dies nicht der Fall ist.
Epigenetik ist das Bindeglied zwischen Umwelteinflüssen und Genen und bestimmt, unter welchen Umständen welches Gen an- oder abgeschaltet wird (Genregulation), ohne dass sich dabei die DNA-Sequenz selbst ändert. Du kannst dir das Vorstellen, wie der Dimmer an einer Lampe.
Transgenerationale Traumaweitergabe
Diese Veränderungen können durch Umweltfaktoren wie Stress, Ernährung, Toxine und auch traumatische Erfahrungen beeinflusst werden. Es gibt wachsende Hinweise darauf, dass diese Veränderungen durch Traumata nicht nur die betroffene Person selbst, sondern auch nachfolgende Generationen beeinflussen können.
Hierüber können wir uns erklären, warum Bindungsverhalten und Traumata der Großeltern oder Eltern Auswirkungen auf das Leben der Kinder und Kindeskinder haben. Aber das funktioniert nicht nur auf individueller Ebene, sondern läuft auch auf der kollektiven Ebene (Kultur) ab. Du musst die Bedrohung also nicht selber erlebt haben, und leidest dennoch an denselben oder ähnlichen Symptomen, wie die Person oder das Kollektiv, dass diese Traumata erlebt hat.
Wie immer, betrifft dies nicht jeden Menschen, der traumatische Erfahrungen gemacht hat, sondern ist immer auch von der jeweiligen Resilienz (erlernbare psychische Widerstandsfähigkeit) abhängig. Wenn dich das Thema Resilienz interessiert, dann kannst du bei der Pionierin Emmy Werner mehr darüber lesen. Hier findest du ihre Kauai-Studie.
Gesellschaftliche Traumata und Retraumatisierung
Es kann durch verschiedene Ereignisse ausgelöst werden, wie beispielsweise Kriege, Völkermorde, Naturkatastrophen, politische Repression, Sklaverei oder andere Formen von systematischer Unterdrückung. Diese Ereignisse führen zu weitreichenden psychischen, emotionalen und sozialen Auswirkungen auf die betroffenen Gemeinschaften.
Die Auswirkungen eines kollektiven Traumas können vielfältig sein. Es können wiederkehrende Flashbacks, Albträume und Angstzustände auftreten. Die betroffenen Gemeinschaften können auch mit erhöhter Aggression, Gewalt, Depression, Drogenmissbrauch, sozialer Isolation, Verlust des Vertrauens und der Solidarität sowie mit einer gestörten Identitätsentwicklung kämpfen.
Diese Traumata werden oft von einer Übertragung des Traumas über Generationen hinweg begleitet. Dies bedeutet, dass die Auswirkungen des Traumas von den Überlebenden auf ihre Nachkommen übertragen werden können, sei es durch familiäre Bindungen, kulturelle Normen oder ungelöste emotionale Probleme.
Inwiefern die vergangenen Pandemie-Jahre und die aktuellen Krisen dazu beigetragen, traumatisierte Individuen und Kollektive zu retraumatisieren, kannst du dir bei der klugen Michaela Huber einmal ansehen. Für ihre Forschungsarbeiten zum Thema Trauma sowie Trauma und Sucht und ihre Arbeit mit Betroffenen hat sie das Bundesverdienstkreuz erhalten.
Wie kann ein Trauma heilen
Forschungsarbeiten zur Epigenetik gehen davon aus, dass sich durch eine stressfreie Umgebung, genetische Effekte umkehren lassen. Außerdem ist dein Gehirn neuroplastisch und lebenslang in der Lage sich weiterzuentwickeln. Dabei spielt Freude eine große Rolle ;). Dein Gehirn kann sich an neue Lebensbedingungen anpassen, vor allem wenn du die Veränderungen mit Freude und Begeisterung tust. Achte darauf, dass auf dem Weg der Heilung keine Retraumatisierungen stattfinden. Früher glaubte man, dass alle Erfahrungen wiedererlebt und aufgearbeitet werden müssten. Dies ist jedoch falsch. Was dir bei komplexen Entwicklungstrauma (Typ-2-Trauma) hilft:
- EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing): Nutzt Augenbewegungen oder andere bilaterale Stimulation, um traumatische Erinnerungen zu verarbeiten und die belastenden Gefühle zu reduzieren.
- Emotional Freedom Technik (EFT): Die Klopftechnik ist eine Methode, um emotionale Belastungen, Ängste oder traumatische Erinnerungen zu behandeln. Dabei werden durch leichtes Klopfen bestimmte Punkte am Körper stimuliert, während man sich auf das belastende Gefühl oder die Erinnerung konzentriert. Diese Technik zielt darauf ab, die emotionale Belastung zu reduzieren und das innere Gleichgewicht wiederherzustellen.
- Narrative Verfahren: Geschichten und Erzählungen werden genutzt, um psychische Gesundheit zu fördern und emotionale Belastungen zu bewältigen. Durch das Neuerzählen oder Umdeuten von Lebensgeschichten können negative Muster, Gedanken oder Traumata transformiert werden, um eine positive Identitätsbildung und inneres Wachstum zu unterstützen. Narrative Verfahren geben den Menschen die Möglichkeit, ihre eigene Lebensgeschichte neu zu interpretieren und dabei Selbstverständnis, Resilienz und Heilung zu fördern.
- Körperorientierte Verfahren: Somatic Experiencing (SE): Der Fokus liegt auf den körperlichen Reaktionen auf Traumata und wie diese durch kontrollierte Aufmerksamkeit und sanfte körperliche Übungen gelindert werden können. TRE (Tension and Trauma Releasing Exercises): Zielt darauf ab, gespeicherte körperliche Spannungen und Stress durch zitternde Bewegungen zu lösen. Sensorimotor Psychotherapy: Integriert Körperarbeit und körperliche Wahrnehmung in die Traumabehandlung, um die Verbindung zwischen traumatischen Erinnerungen und Körperreaktionen zu adressieren.
- DBT (Dialectical Behavior Therapy): Kombiniert Achtsamkeit, Emotionsregulation, zwischenmenschliche Beziehung und Stressbewältigung, um die Bewältigung von Traumafolgen zu fördern.
- Kunsttherapie: Kreative Ausdrucksformen wie Malen oder Schreiben können helfen, traumatische Erfahrungen zu verarbeiten, wenn verbale Kommunikation schwierig ist.
- Imaginative Verfahren: Die Vorstellungskraft und innere Bilder werden hier genutzt, um emotionale Belastungen, traumatische Erfahrungen oder andere psychische Probleme zu bewältigen. Durch das Eintauchen in eine imaginäre Szene oder das Visualisieren von positiven Veränderungen wird versucht, negative Emotionen zu reduzieren und innere Heilungsprozesse zu fördern.
- Achtsamkeitsbasierte Interventionen: Techniken, wie Meditation und Atemübungen, können helfen, das Bewusstsein für den gegenwärtigen Moment zu stärken und die Stressreaktion zu regulieren.
- Yoga: Yogaübungen können helfen, Körper und Geist zu beruhigen und die Verbindung zwischen Körper und Emotionen zu stärken.
- Natur: Die Natur, wie Waldspaziergänge oder Zeit im Freien, können beruhigend wirken und zur Verarbeitung von Trauma beitragen
- Unterstützung und soziale Bindungen: Eine stabile und unterstützende soziale Umgebung kann einen wichtigen Beitrag zur Heilung von Trauma leisten. Unterstützung von Familie, Freunden oder Selbsthilfegruppen kann dazu beitragen, das Gefühl von Verbundenheit und Sicherheit wiederherzustellen. Das Teilen von Erfahrungen mit anderen Betroffenen kann entlastend sein und den Austausch von Bewältigungsstrategien ermöglichen.
Genau hier beißt sich die Katze in den Schwanz 🙂 Kennst du das Gefühl, alles alleine schaffen zu müssen oder die familiären Geheimnisse bloß nicht offen zu legen, alles unter den Teppich zu kehren? Dich selbst für alles schuldig und verantwortlich zu fühlen? Und dieses üble Schamgefühl? Dies können Traumafolgen sein 😉 Lass uns Tabus brechen!
Hast du Fragen zum Thema Entwicklungstrauma (Typ-2-Trauma)?
Ich stehe dir kostenlos für deine Fragen im Kontext
einer trauma- diversitätsseniblen Beratung und Fahrerlaubnis zur Verfügung.
Quellen und weiterführende Links zu Entwicklungstrauma, Typ-2-Trauma:
- Bessel van der Kolk (2014): The Body Keeps the Score: Brain, Mind, and Body in the Healing of Trauma
- Deb Dana (2018) Polyvagal Theory in Therapy: Engaging the Rhythm of Regulation – beschreibt die Anwendung der Polyvagal-Theorie in der therapeutischen Praxis und beinhaltet praktische Übungen zur Regulation des Nervensystems.
- Stephen Porges (2017): The Pocket Guide to the Polyvagal Theory: The Transformative Power of Feeling Safe – Leitfaden zur Polyvagal-Theorie und ihrer Anwendung in der Selbstregulation und in der therapeutischen Praxis.
- Bindungsstile und Suchtentwicklung
- Titelbild @AdelinaZw auf Pixabay
Was ist ein Trauma
Ein Trauma bezieht sich auf eine belastende Erfahrung oder Ereignis, das eine starke emotionale Reaktion hervorruft und das individuelle Bewältigungsfähigkeiten überfordert.
Was ist ein komplexes Entwicklungstrauma
Komplexes Entwicklungstrauma beschreibt wiederholte und langanhaltende traumatische Erfahrungen, insbesondere in der Kindheit und Jugend, die die Entwicklung beeinträchtigen und vielfältige Auswirkungen auf die psychische und körperliche Gesundheit, über die gesamte Lebensspanne eines Menschen, haben können.
Warum erfassen die gültigen Diagnosekriterien diese Traumaform nicht angemessen
Die Diagnosen PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) und KPTBS (Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung) erfassen nicht die vielfältigen und langfristigen Auswirkungen von komplexen Entwicklungstraumata, die oft eine umfassendere Betrachtung ihrer sozialen Entstehung, dem Kontext, dem Zeitpunkt und der individuellen körperlichen und psychischen Reaktionen erfordern.